Das Sechste Königreich by CrazyEddie | World Anvil Manuscripts | World Anvil

Die Saat bewässern

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Gavín nahm Jorgas Zügel von der Tempelwache dankend entgegen. Der Kaltblüter schüttelte träge den riesigen Kopf, ließ sich aber anstandslos vom Tempel den Weg zurück durch die etwas weniger belebte Stadt führen. Die meisten Gläubigen gingen wieder ihren alltäglichen Geschäften nach oder verschwanden in ihren Häusern, wenn sie denn eines besaßen.

Eine Prozession Priester kam ihnen aus dem Tempel hinterher, die Köpfe in heiligem Gebet gesenkt, die Hände waren miteinander verschränkt, die Zeigefinger ausgestreckt aneinandergepresst. Schmale Kettchen waren um die Finger und Hände gehängt, daran baumelte ein glockenartiger Weihrauchbrenner; dünne graue Rauchfäden stiegen aus kleinen Löchern daraus empor, verteilten sich und lockten mit einem angenehmen holzartigen Duft. Angeführt wurden die sechs Priester von einem in Rot und Schwarz gekleideten Manifestar, der einen größeren Weihrauchbrenner in derselben Form vor sich hertrug und ihn traumwandlerisch von Seite zu Seite über den Weg schwingen ließ, den die Prozession beschritt.

"Was singen sie da?", fragte Gavín seine Mutter, als die Priester an ihnen vorbeischritten. Der Gesang war getragen, langsam, wirkte in sich gekehrt, als wollten die Worte gar nicht zu den lauschenden Menschen vordringen.

"Ich weiß es nicht.", antwortete Freyrín wahrheitsgemäß. "Ich glaube, es ist die Sprache der Altvorderen, aber sicher bin ich mir da nicht. Unsere Anrufungen nutzen ihre Worte nicht, wie du weißt."

"Das weiß ich, Mutter, aber dennoch hätte es sein können, dass du noch viel mehr weißt als du zugibst."

"Ich weiß auch mehr als ich zugebe, aber das muss ich dir neugierigem Jungen nicht auf die Nase binden.", schmunzelte die Druidin und gab Jorga einen Klaps auf die Seite, dass er den Wagen weiterbewegen sollte. Die Priester waren ein gutes Dutzend Meter vor ihnen und waren schneller als ihr Gefährt, wenn auch nicht viel.

Gavín hatte den Kopf aber woanders. Zwar auch bei den Priestern, aber vielmehr bei Lanialellara und den Sechs. Ihre Worte waren sehr eindeutig, besprachen sie doch auch sehr weltliche Neigungen. Besonders Wut, Gier und Neid, aber auch die Warnung vor dem Missbrauch von Magie war ernst zu nehmen. Aber das waren die Worte der Sechs. Gab es denn nichts von dem Engel, der auf der Erde leben wollte mit den Menschen und anderen Völkern? Sie musste doch auch etwas gesagt haben oder etwa nicht?

"War Lanialellara stumm?", fragte er geradeheraus seine Mutter, die ihn erst verwirrt anblinzelte.

"Ich verstehe die Frage nicht.", gestand sie ihm. "Du meinst, ob sie nicht sprechen konnte?"

"Ja. Ich... versuche zu verstehen, warum die Drachen ein ganzes heiliges Buch haben, aber vom Engel immer nur in der dritten Person gesprochen wird, als hätte sie damals nichts zu sagen gehabt."

"Ich vermute, sie hat vieles zu sagen gehabt." Freyrín deutete auf einen Laden hin, der kleine Statuen von Lanialellara aufgereiht hatte, auch einige Drachenstatuen, die in den jeweiligen Farben gestaltet waren. "Ich persönlich ohne jegliches Vorwissen würde behaupten, das Buch der Farben wurde von ihr mitgestaltet. Soweit ich weiß, gehen die Manifestare - also die Bezeichnung innerhalb der Kirche - auf ihre Stellung innerhalb der Kirche von Lithrodil zurück."

"Das heißt, es gab sie schon in Lithrodil?"

"Würde ich vermuten, ja. - Willst du eine der Figuren haben? Du schaust die ganze Zeit hinüber."

"Nun, sie ist hübsch.", wand sich Gavín an der eigentlichen Frage vorbei.

"Das ist sie. Du kannst dir aber auch selbst eine Figur schnitzen."

"Hmpf, das letzte Mal hab ich mir in den Daumen geschnitten."

"Und? Was hast du daraus gelernt?"

"Nicht in den Daumen schneiden."

"Ganz recht." Freyrín drückte ihm zwei Silberdeut in die Hand. Das war recht viel im Vergleich zu Speis und Trank, aber er bedankte sich dennoch artig, bevor er über die Straße huschte. 

"Na, junger Mann?", lächelte der sehnige Bildhauer hinter dem niedrigen Tresen.

Junger Mann. Eine Ansprache, die Gavín mittlerweile nicht mehr hören konnte. Was war er denn nun? Ein Mann? Jung? Das eine schloss das andere doch aus, jedenfalls nach seinem Empfinden. Er verzog zwar das Gesicht, grüßte aber dennoch höflich zurück.

"Wohlan denn, guter Mann", sprach Gavín übertrieben, "welche gar wohlgefällige Ware bietet Ihr denn feil?"

Der Bildhauer blinzelte, dann schmunzelte Gavín. "Verzeiht, es kam über mich. Könnt Ihr mir eine Figur von Lanialellara für zwei Silberdeut oder weniger überlassen?"

"Mit oder ohne Farbe?", fragte der Mann zurück, der sich erst noch von der seltsamen Ansprache erholen musste.

"Würde es den Rahmen von zwei Silderdeut sprengen?"

"Nein, nur ausschöpfen."

"Dann ohne Farbe. Ich möchte sie ungerne fleckig haben, wenn die Farbe abgeht."

"Eine gute Wahl, junger Mann. Dann bitte einen Silberdeut." Der Mann streckte Gavín die Figur hin, auf die er gedeutet hatte. Es war Lanialellara, die mit einem ernsten Blick auf den Gläubigen zu schauen schien, der sie in der Hand hielt. Ihr schöner Körper war in eine Robe gekleidet und ihre ausladenden Flügel lagen fast angelegt auf ihrem Rücken. Ihre Hände hatte sie vor dem Bauch verschränkt, als wolle sie gleich eine Predigt halten.

"Vielen Dank." Gavín bezahlte den einen Silberdeut und kam freudestrahlend zu seiner Mutter zurück, die einen Mann untersuchte, der ihr den Arm hingestreckt hatte.

"Sieht nicht gut aus, aber Ihr werdet daran nicht sterben.", murmelte sie, untersuchte die Wunde. "Heißes Wasser, kein Dreck hinein und wenn Ihr könnt, nehmt etwas Salbei zu Euch, das sollte helfen. Zur Beruhigung vielleicht auch Lavendel. Ich würde Euch gerne etwas geben, aber wir haben selbst nichts mehr."

"Das hat mir geholfen.", nuschelte der Mann, verneigte sich und murmelte "Habt Dank, Druidin", bevor er sich auf den Weg in eine Nebenstraße machte.

"Wir brauchen wieder Vorräte.", eröffnete seine Mutter ihm, als er ihr den übriggebliebenen Silberdeut in die Hand drückte und ihr stolz die Figur präsentierte. "Oh, sie ist aber hübsch. Und so... gut proportioniert."

"Das verstehe ich nicht."

"Kommt noch." Freyrín ließ Jorga wieder antraben. "Wirst du jetzt jeden Tag beten?"

"Zumindest in ihre Richtung und sie um Rat oder Weisung bitten."

"Wofür brauchst du denn Rat oder Weisung?"

"Das weiß ich noch nicht."

"Du bist mein Junge.", lachte die Druidin, kraulte ihm durch die Haare. Dieses Mal ließ er es zu.

 

 

Am späten Nachmittag hatten sie endlich ihren Wagen auf der anderen Seite des Flusses aufgebaut, nicht wie sonst auch nahe der Stadtmauer. Hoffentlich fanden die Männer des Kommandanten sie, die Stadtwache hatte sie verscheucht. Man befürchtete wohl Späher der Wanurim. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würden die Wanurim die Agrobath angreifen und bevor sie nach Dorstein kamen, alle kleineren Dörfer und Farmen überrennen.

Auf dem Weg aus der Stadt hatten sie ein kleine Fass Met erstanden, das Wasser aus ihrem bestehenden Fass mit frischem Flusswasser ausgetauscht und etwas getrockneten Schinken dazugekauft, damit sie etwas zu essen hatten, bevor ihre Vorräte ihnen gebracht wurden.

"So ist es schon besser." Freyrín hatte ihre Stiefel ausgezogen und sie neben den schmalen ausklappbaren Hocker gestellt, streckte ihre nackten Sohlen dem kleinen Feuer entgegen. In der einen Hand hielt sie das Stück Schinken, die andere spielte mit ihrem Anhänger, den sie um ihre Finger drehte.

"Meinst du, es wird Regen geben?", fragte Gavín nachdenklich, während er die Figur von Lanialellara auf dem Knie balancierte, seinen Schinken kaum angerührt.

"Ich bin Druidin, kein Wetterfrosch.", lachte seine Mutter, hob den Anhänger in die Höhe, prüfte die Luft mit der Zunge, spuckte aus und nickte. "Es wird wahrscheinlich irgendwann regnen."

"Oah Mutter!", rief Gavín aus. "Ob es heute Nacht regnen wird!"

"Dann stell deine Frage doch anders, Sohn!", rief auch Freyrín in der gleichen Tonart aus und zuckte mit der Schulter. "Bisher nicht, würde ich sagen. Ich spüre keinerlei Wetterveränderungen. Nicht, dass es irgendetwas zu sagen hätte. Warum fragst du?"

"Ich würde heute Nacht gerne draußen schlafen."

"Sag, ist mein Sohn etwa wegen eines einzigen Gebets und Besuchs in der Kirche zum Gläubigen geworden?" Sie beugte sich neugierig nach vorne, Gavín schüttelte nur den Kopf.

"Du schnarchst."

"Und du pupst ununterbrochen."

"Gut, dann schlafe ich draußen."

"Mach doch, aber weiche meiner Frage nicht aus."

"Nein, ich bin nicht zum Gläubigen geworden. Ich denke nur gerade etwas mehr nach."

"Das ist mal was Neues."

"Ja, Mutter, ich denke; es tut sogar weh."

Freyrín schmunzelte. "Endlich hörst du auf mich. Und worüber denkst du nach?"

"Über Lanialellara, die Drachen selbst und wie... ich weiß es nicht." Er seufzte, strich der Figur über das lange, wallende Haar, ohne sie von seinem Knie zu werfen. "Ich habe das Gefühl, dass das Druiden-Dasein nicht das Richtige für mich ist. Ich will wissen, warum die Kirche so ist, wie sie ist. Ich möchte wissen, wie unser Land so geworden ist, warum die Wanurim uns bekämpfen und warum der Engel auf dem Tempel steht."

"Oh." Freyrín schaute ihren Sohn nachdenklich an, Gavín sah es nur aus dem Augenwinkel, denn er hob den Kopf nicht, sondern schaute nur die Figur des Engels an. "Ich verstehe, glaube ich. Nein, ich verstehe dich voll und ganz, ähnliche Gedanken haben auch deine Schwester umgetrieben."

"Sillana..." Gavín seufzte. "Ich vermisse sie. Irgendwie. Nicht alles, aber sie im Ganzen."

"Ist nun auch ein paar Jahre her." Freyrín nickte und winkte zwei Männern, die mit einem Karren zu ihnen kamen. Barfüßig stand sie auf und Gavín ließ sie machen. Sie beide wussten, was wo in ihren Wagen musste, er würde ihr nicht helfen können. Gerade wollte er auch nicht helfen, sondern einfach nur sitzen.

Lanialellara. Ein richtiger Engel, der vom Himmel gefallen war und auf der Erde lebte oder gelebt hatte. Mit einem richtigen Ziel, einer richtigen Stadt und einem echten Leben. Den Krater hatte Gavín gesehen, war aber nicht auf den übrig gebliebenen Befestigungen oder auf den Forschungsstätten gewesen. Yenur schien aber interessanter zu sein, genauso wie der Tempel vor Erdhawyrst.

"Schlaf draußen.", tippte ihn seine Mutter unvermittelt an. Die Männer waren verschwunden, ebenso ihr Karren, der Wagen wirkte wie eh und je. Wann war es so dunkel geworden und warum reichte sie ihm eine Schale deftiger Suppe? Wann war das passiert? "Du schläfst mir ja eh schon im Sitzen ein."

"Ich war nur in Gedanken.", nuschelte er und spürte sowohl Hunger als auch Durst. Wie lange hatte er still dagesessen?

"Natürlich warst du das." Auch seine Mutter hatte eine Schale mit Suppe neben ihrem Hocker stehen, der kleine Kessel dampfte noch vor sich hin. "Was hältst du davon, wenn wir deine Schwester besuchen? Wir gehen den Weg wieder zurück nach Nimri, Vorräte auffüllen, durch den Wald an Lithrodil vorbei nach Yenur und dann nach Erdhawyrst zu Sillana?"

"So einfach lässt du mich gehen?" Gavín hob überrascht den Kopf, die Augen geweitet. War es so einfach gewesen?

"Nein, natürlich nicht. Ich wollte aus dir einen neuen Druiden machen. Jemanden, der mein Werk fortsetzt und weitere Druiden ausbildet. Aber du bist mein Sohn und wenn ich dich zwinge, dann wird deine Arbeit nicht gut und einen schlechten Druiden kann niemand gebrauchen, am allerwenigsten er selbst. Du hast den Vorteil, dass du unsere Gebräuche, Anrufungen und Arbeitsweisen schon kennst. Solltest du zurückkommen wollen, wäre es dir ein Leichtes. Niemand hegt schlechte Gedanken, wenn du etwas anderes machen willst."

"Das wäre bei den Druiden etwas seltsam gewesen. Ihr seid alle so... entspannt. Wie ein großer See."

Seine Mutter lächelte, was ihre kleinen Falten um die Augen vertiefte. "Die meisten sind es. Das müssen wir auch sein, unsere Patienten sind nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen, Bäume, Kulthari und andere Wesen."

"Das weiß ich. Ich bewundere es, aber..."

"Es singt nicht in dir."

"Nein."

"Dann werden wir auf jeden Fall deine Schwester besuchen gehen." Freyrín schlürfte lautstark, rülpste einmal. "Ah, wieder gut gekocht."

"Ich bin froh, dein Sohn zu sein.", sprach Gavín leise, schaute wieder die Figur an und begann zu essen. Den nachdenklichen Blick seiner Mutter sah er deswegen nicht. Freyrín sagte darauf nichts, aber ihr Gute-Nacht-Kuss bewies ihm, dass auch sie froh war, dass er ihr Sohn war.

Gavín legte sich auf seine Decke, schaute zu dem fast wolkenlosen Himmel hinauf, als sie fertig mit dem Essen und die Schalen gesäubert worden waren.

Dort oben lebten wohl die Drachen. Und ein Engel war auf die Erde gefallen. Das klang Gavín merkwürdig genug, sodass er auf jeden Fall Sillana dazu befragen musste. Der Engelsfall sah ihm nicht ganz freiwillig aus.

Sillana würde ihm sicher mehr sagen können.

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