Die Prophezeihung by wintergoettin | World Anvil Manuscripts | World Anvil

Prolog

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Sie rannte aus dem Haus und versuchte, ihrer Mutter zu entkommen. Mit klebrigen Händen schob sie sich die Reste der Rosinenschnecke in den Mund, die sie in der Küche erbeuten konnte. Ihre blonde Mähne flog in einem geflochtenen Zopf hinter ihr her. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass sie Glück hatte und schnell bog sie um eine Hausecke, um den Blicken vom Haupthaus zu entgehen.
»Gabby!«, rief ihr jemand hinterher, aber sie drückte sich an die Gebäudewand und schlich weiter. Ihre Finger wischte sie eilig an den Hosen ab und flitzte zur Scheune. Heute sollte das Pferderennen sein und sie wollte so gern die weiße Stute reiten. Vater hatte es ihr verboten, jedoch sah sie Verbote als eine große Herausforderung an. Ihr älterer Bruder stand in einiger Entfernung und erweckte nicht den Anschein, als würde ihm das Pferderennen große Freude bereiten. Als der Vater den Sohn an der Schulter fasste, zuckte dieser zusammen.
»Vater, warum muss ich reiten?«, jammerte er den älteren Mann vor sich an.
»Leo, jemand aus unserer Familie muss teilnehmen. Der Pferdemarkt findet bei uns auf dem Hof statt. Bisher hat jeder Ausrichter am Rennen teilgenommen«, herrschte ihn der Vater an und zog die Augenbrauen nach oben. Leonidas ließ den Kopf hängen. Draußen wurde es laut, als alle Teilnehmer aufgefordert wurden, die Plätze an der Startlinie einzunehmen.
Die beiden Männer bemerkten nicht, dass sich das blonde Mädchen, das in Hosen und Hemd steckte, an ihnen vorbei schlich und im hinteren Teil des Stalles die Box von Flöckchen öffnete, um die weiße Stute nach draußen zu führen. Im Freien angelangt, stieg sie in den Sattel und trabte zum Start davon.
»Los Flöckchen, wir werden das Rennen schon gewinnen.«
Tätschelte sie freudig dem Pferd den Hals und manövrierte sie zu einem Pulk von Menschen, in dessen Mitte sich die restlichen Teilnehmer vorfanden. Der Schiedsrichter sah zu ihr auf und nickte. Er wies einen Burschen an, einige Gewichte am Sattel anzubringen, damit alle Pferde das gleiche Gewicht trugen. Als sich der Knecht bis auf einen Meter genähert hatte, wollte das Pferd nach ihm schnappen.
»Ruhig Flöckchen«, murmelte das Mädchen und war schon sehr aufgeregt, da der Start kurz bevorstand. Sie hatte ihren Vater und den Bruder dabei belauscht, als sie die Strecke und die Rundenzahl besprachen. Vom schlechten Gewissen gepeinigt sah sie sich ängstlich nach ihrem Vater um. Sie wollte um jeden Preis vermeiden, dass er sie vom Pferd zerrte und übers Knie legte. Doch da ertönte das Signal und sie preschte mit Flöckchen los.
Sie ließ das Rennen langsam angehen und hielt sich in der ersten Runde im Mittelfeld. Die Strecke kannte sie, da sie oft in den Wäldern und auf dem Gehöft unterwegs war. Tief über den Nacken gebeugt, den Zopf hinter sich her peitschend, trieb sie die Stute weiter an. Sie holte zur Spitzengruppe auf und fühlte sich vollkommen in ihrem Element.
Als das Startsignal ertönte, hoben Vater und Sohn die Köpfe, dann rannten sie zu der Box, in der Flöckchen hätte stehen sollen. Bestürzt in die Leere blickend, sahen sie sich an und sagten unisono: »Gabby!« 
Sie rannten zur Rennbahn und sahen nur noch einige Pferde, die im Wald verschwanden.
»Du hättest auf diesem Pferderücken sitzen sollen, Leonidas«, zischte er den Jungen an, raufte sich die Haare und blickte zum Wald. Er suchte die Stellen, an der die Reiter wieder erscheinen müssten. 
»Sollte ihr etwas passieren, reißt mir deine Mutter den Kopf ab.«
Die Minuten schienen sich ewig hinzuziehen, dann erschien das erste Pferd, schließlich ein zweites und ein drittes. Einen weißen Punkt erblickend, zog Leonidas freudig am Arm seines Vaters.
»Schau doch, sie reitet ganz vorn mit«, deutete der Junge aufgeregt auf das Mädchen. Wie eine Einheit galoppierte Flöckchen mit ihrer Reiterin an der tobenden Zuschauermenge vorbei. Die Wende kam und es ging erneut in den Wald. Wieder vergingen die Minuten und schienen sich zu winzig kleinen Ewigkeiten hinzuziehen. Doch dann tauchten abermals die ersten Reiter auf. 
Die weiße Stute lief an zweiter Stelle und die letzte Runde stand aus. Leonidas feuerte seine kleine Schwester an, als sie an ihm vorbei preschte und die Wende ganz eng nahm. Ein breites Grinsen breitete sich auf dem Kindergesicht aus, als sie merkte, dass der Vorsprung des Ersten geringer wurde. Eng über den Hals gebeugt, schien sie ihrem Pferd Worte zuzuflüstern und Flocke legte nochmals an Tempo zu. Als sie die Waldgrenze erreichten, hatte sie den Führenden direkt vor sich.
Leonidas sah zu seinem Vater empor und bemerkte seine angespannte Miene.
»Vater, sie wird schon gewinnen.«
Leicht lächelnd, fuhr er seinem Sohn durch die Haare, dann murmelte er: »Darüber mache ich mir keine Gedanken. Das Wichtigste ist, dass Gabby nichts passiert.« 
Damit sah er wieder zur Waldgrenze, an der die Reiter erscheinen mussten. Als Jubel ausbrach, sah auch er, dass seine Stute Kopf an Kopf mit einem Braunen aus dem Wald kam.
Das Mädchen saß tief über den Hals der Stute gebeugt und sah sich im Augenwinkel immer wieder nach ihrem Kontrahenten um. Sie murmelte etwas und ließ die Zügel locker. Flöckchen raste förmlich davon und ließ den Braunen hinter sich. Als Erste überquerte sie die Ziellinie und zügelte dann das Tier. Breit lächelnd sah sie sich um und entdeckte ihren Vater in der Menge. Sein Gesichtsausdruck hatte nichts Gutes zu verheißen. 
Langsam ließ sie die Stute in seine Richtung gehen, doch sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Plötzlich stieg Flöckchen und durch die Überraschung, konnte sie sich nicht auf dem Pferderücken halten. Hart krachte sie auf den Boden und die Luft wurde aus ihren Lungen gepresst. Nur nebenbei registrierte sie die Geschehnisse um sie herum. Die Stute tänzelte und trat mit ihrer Hinterhand auf sie. Ihren Schrei nahm sie nicht wahr und der Schmerz in ihrer Schulter raubte ihr das Bewusstsein. 
Als sie wieder erwachte, lag sie in ihrem Bett. Etwas stimmte mit ihrer linken Schulter und ihrem Arm nicht. Sie konnte sie nicht bewegen und als sie es versuchte, fuhr ihr ein stechender Schmerz hinein. So abgelenkt hörte sie die Stimmen nicht, die sich ihrem Raum näherten.
Ihre Mutter kam herein und schien sich mit ihrem Vater zu streiten. Dann fiel der Blick auf sie.
»Oh Gabby, du bist wach, den Göttern sei gedankt. Wie fühlst du dich und was hast du dir nur dabei gedacht?«, schluchzte ihre Mutter erleichtert auf. Ihr Vater erschien im Türrahmen und sah sie mit einem ähnlichen Blick an der Besorgnis und auch Vorwurf enthielt. 
Das Mädchen schämte sich, doch dann fing sie an zu grinsen und sagte leise: »Gewonnen.«

© wintergoettin


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